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Der Apothekenkrimi

DIE MÖRDERBLUME – TEIL 1

Der Tag hatte ganz entspannt angefangen. Mittwoch vormittag, die ersten Patienten kamen aus der kardiologischen Praxis nach unten in die Apotheke; Britta und Annette lösten Rezepte über Phenprocoumon, über Betablocker, Valsartan und ASS ein...

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„Heirate mich.“ Britta Badouin verscheuchte das Bild des niederknienden Robert von der Leyden vor ihrem geistigen Auge, als sie den Tankstutzen aus ihrem Auto zog. 1,45 Euro pro Liter, das war ja wohl eine Frechheit. Damals, als sie ihren ersten VW Käfer fuhr, kostete das Benzin noch 85 Pfennige. Und man regte sich auf, wenn der Preis übers Wochenende mal um zwei Pfennige stieg. Die Apothekerin hängte den Metallstutzen wieder ordentlich in die Säule und blickte auf die Digitalanzeige. 39,23 Euro. Komisch. Der Tank war doch leer gewesen. „Heirate mich.“

Roberts Stimme in ihrem Hirn durchdrang sogar die gutturalen Äußerungen der raubeinigen Männertruppe, die soeben einem Kleintransporter entstiegen waren. Derjenige, der den Tankdeckel öffnete, spähte mit zusammengekniffenen Augen auf die gelisteten Preise der Anzeigentafel. Mit einem Klacken rastete die Tankpistole ein und der Kraftstoff begann zu laufen. Britta, in Richtung Freiburg unterwegs, war sich schon darüber im Klaren, dass dies hier eine Flucht war. Bevor sie Robert noch antworten konnte, platzte Billie in die Szene.

Und dann ging auf einmal alles drunter und drüber. Der Tag hatte ganz entspannt angefangen. Mittwoch vormittag, die ersten Patienten kamen aus der kardiologischen Praxis nach unten in die Apotheke; Britta und Annette lösten Rezepte über Phenprocoumon, über Betablocker, Valsartan und ASS ein. Alles ganz normal. Ein Stammkunde kam herein und betrachtete verwundert Annette, die gerade etwas in den Computer tippte. „Haben Sie eine neue Mitarbeiterin?“ fragte er Britta, die sein Rezept entgegennahm. „Erkennen Sie meine PTA nicht mehr?“ fragte sie lachend.

„Frau von der Leyden hat zwar ihren Nachnamen geändert – früher hieß sie Loos -, aber sonst ist sie ganz dieselbe.“ Der Kunde schaute zu, wie Annette ein Gespräch mit einer Frau führte und dabei lachend auf eine Medikamentenpackung zeigte. „Wahnsinn“, sagte er. Und Britta dachte, wie sehr die Mutterschaft eine Frau verändern kann. Annettes Züge waren weicher geworden, sie wirkte ruhiger und (zu ihrem Leidwesen) auch etwas fülliger. Was Britta aber gar nicht schlimm fand, denn sie hatte die PTA früher immer viel zu dünn gefunden.

Annette wirkte wie jemand, der seinen Platz gefunden hatte, erwachsener und ausgesprochen gut gelaunt. Beneidenswert, dachte Britta, als sie zu den Ziehschubladen ging. Und das, obwohl der kleine Max sie regelmäßig um den Schlaf bringt. Britta selbst hatte sicherlich mehrere Kilometer mit dem Säugling auf dem Arm durch die Gänge der Grimmburg zurückgelegt (siehe „Das Weihnachtsrätsel“ aus „DIE PTA IN DER APOTHEKE“ 12/17), denn das Kind litt unter Dreimonatskoliken.

Doch, ach, der Kleine war so goldig, dass sie gern einsprang, zumal sie und Robert zu zweien der insgesamt sechs Paten für das Kind bestimmt worden waren. Britta klaubte eine Großpackung Agnus Castus aus dem Ziehschrank. Moment mal. „Ist das für Sie?“ fragte Britta den Kunden, als sie wieder an die Kasse zurückgekehrt war und warf noch einmal einen Blick auf das Rezept. Der Name des Mannes stand deutlich in der Adresszeile.

„Ja“, sagte der Kunde und senkte die Stimme. „Wissen Sie… der Arzt meinte…“ Britta lächelte ihn an. „Was Mönche jahrhundertelang in ihren Klostern geholfen hat, soll auch eine Chance in der Neuzeit haben“, sagte sie herzlich. „Warum nicht? Probieren Sie’s mal. Und lassen Sie sich nicht vom Beipackzettel schrecken, der bezieht sich eher auf das Prämenstruelle Syndrom.“ „Danke“, sagte der Kunde erleichtert und ließ die Packung in seiner Jackentasche verschwinden.

„Du hast einem Patienten Mönchspfeffer verschrieben?“ fragte Britta amüsiert, als Robert in der Mittagspause bei ihr vorbeischaute. Der Kardiologe hatte seine Praxis über der Apotheke und die beiden waren seit längerem ein Paar (siehe „Mord am Mainufer“, Band 1 der Apothekenkrimis). „Ja, der arme Kerl war ganz verzweifelt“, sagte der Arzt und ließ sich aufatmend in einen der Besuchersessel fallen. „Puh.“ Die langen Beine mit den blitzblank geputzten Schuhen von sich gestreckt – Robert von der Leyden achtete immer sehr auf sein Äußeres – ließ er die Arme über die Lehnen des Ledersessels hängen. „Das war ein Vormittag!“

Unter den Ärmeln des blassblauen Oberhemdes lugten kleine, gekräuselte, goldene Härchen hervor. Die dunkle, schmale Krawatte legte sich über seinen schlanken Oberkörper und endete knapp über dem farblich genau abgestimmten Ledergürtel der Gabardine-Hose. „Viel zu tun?“ fragte Britta, die fasziniert bemerkte, dass Roberts graumelierter, fast weißer Haarschopf ihm widerspenstigerweise in einer langen Welle in die Augen fiel. „Morgen ist doch ein Feiertag und danach der Brückentag“, sagte Robert und schob sich ungeduldig die Tolle aus der Stirn. Dann ließ er seine linke Hand in der Hosentasche verschwinden.

„Du weißt doch, wie die Leute dann immer sind. Als ob die Medikamentenversorgung für immer eingestellt würde.“ „Ja, ich weiß, was du meinst.“ Britta verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Aber bei uns verteilt es sich heute über den Nachmittag, da habt ihr Ärzte ja zu.“ Robert blinzelte. „Ist Billie da, um dich abzulösen?“ fragte er angelegentlich. Billie, die junge Apothekerin mit dem schwedischen Vater und der deutschen Mutter, war ein Glücksgriff gewesen. Britta hatte sie eingestellt, als die Arbeit im vergangenen halben Jahr überhand nahm und schnell festgestellt, dass die junge Frau hervorragend ins Team passte: Pfiffig und humorvoll sorgte sie gern für gute Stimmung und nahm trotzdem ihren Apothekerberuf sehr ernst.

Eigentlich erstaunlich, dass es so wenige von dieser Art gibt, dachte Britta. Aber vielleicht lädt die Pharmazie auch nicht gerade zu kreativem Frohsinn ein. Obwohl… Britta versank in Tagträumereien über die künstlerische Gestaltung von Strukturformeln, etwas, das ihr schon lange im Kopf herumging. Robert klopfte sacht auf die Armlehnen. Das tat er immer, wenn sie wieder abdriftete. Britta dachte immer so viel. „Ähm, ja. Sie kommt gleich. Ich muss mich heute Nachmittag mal um die Bestellungen kümmern und ein paar Sachen für den Steuerberater raussuchen.“ Sie lächelte ihrem Lebensgefährten zu. Robert lächelte zurück.

„Kannst du das vielleicht verschieben? Ich möchte mal was mit dir besprechen.“ Britta spürte ein unklares Gefühl von Gefahr heraufziehen. Sie konnte es nicht genau benennen, nur dass es ihr inneres Gleichgewicht bedrohte. Irgendein Alarmknopf in ihrem Hirn begann rot zu blinken, Britta konnte es sich selbst nicht recht erklären. Ob es am Tonfall seiner Stimme gelegen hatte? Deshalb antwortete sie auch etwas völlig Unsinniges. „Warum hast du dem Mann Agnus Castus verschrieben?“ Robert schaute sie aufmerksam an.

Britta wusste, dass er immer sehr verständnisvoll war, was ihre Tagträumereien betraf, ihre ständigen Abwesenheiten, das Sich-Kümmern ums Geschäft und um das Personal. Diesmal jedoch lag etwas anderes in seinem Blick: eine gewisse Härte. Etwas Ungeduldiges. Britta setzte sich kerzengerade hin. „Er hat sich an mich gewandt, da er davon gehört hat, dass es den Geschlechtstrieb unterdrückt. Du weißt ja, die Geschichte, dass Mönche in den Klostergärten die Früchte der Pflanze verwendet haben, um ihre Libido zu dämpfen. Tatsächlich habe ich mal von einer Studie gelesen, wonach es bei Männern den Prolaktinspiegel senkt, was wiederum die Testosteronproduktion einschränkt.“ „Wollte der Mann diese Wirkung für sich selbst?“

„Ja, und zwar mit einer ganz rührenden Begründung. Seine Freundin war für einige Monate in die USA versetzt worden; sie würden sich jetzt längere Zeit nur noch selten sehen. Der arme Kerl kommt vor Sehnsucht fast um und spürte zudem, dass er weiblichen Reizen gegenüber nicht ganz standhaft ist. Kurz gesagt: Er fürchtete, dass er fremdgehen würde und er wollte doch die Freundin auf gar keinen Fall verlieren. Deswegen fragte er mich, ob ich es gutheißen würde, dass er das Präparat einmal ausprobiere. Ich hatte nichts dagegen. Einen Versuch ist es wert.“

Robert zögerte und schaute aus dem Fenster. „Außerdem kann ich ihn gut verstehen.“ „Inwiefern?“ fragte Britta neugierig. Sollte ihr Robert… nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Und in einer seltsamen Parallelreaktion wunderte sie sich: Eigentlich hätte sie doch alarmiert sein müssen. „Dass er sie auf gar keinen Fall verlieren wollte. Wenn man sein Glück einmal gefunden hat, will man es nicht aufs Spiel setzen.“ Und diesmal schaute er sie direkt an. Sein Blick war unmissverständlich. Der Alarmknopf leuchtete grellrot und hörte gar nicht wieder auf zu blinken.

Mitten in den Heiratsantrag Roberts platzte Billie, die junge Apothekerin: „Chefin! Kommen Sie schnell! Ein Unfall!“


„Siehst du das eigentlich auch so?“ fragte Robert mit merkwürdig fremder Stimme. „Doch, ja“, krächzte Britta. Robert stand in einer fließenden Bewegung auf. Britta dachte: Wie elegant er ist. Er sieht gut aus, er achtet auf sich, er ist klug und einfühlsam, wir arbeiten in der gleichen Fachrichtung – ich müsste doch vor Freude außer mir sein, dass dieser Mann mich liebt. Stattdessen stieg Panik in ihr hoch und sie wusste genau, dass sie rot anlief, über die Brust, den Hals, bis hin zu den Wangen. Sie sah dann immer aus wie ein gekochter Hummer. Sie ahnte, was Robert jetzt sagen würde. Er stand vor ihr, sah auf sie herunter.

„Ich wollte eigentlich erst heute Nachmittag damit anfangen, Britta.“ Robert war so ernst, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. „Aber es passt gerade so schön.“ Britta schaute den Mann an, der ihr vom ersten Kennenlernen an nichts als Zuneigung entgegengebracht hatte, der buchstäblich einen Mord für sie begangen hätte, und der so viele Frauen hätte haben können, wie er begehrte. Aber er wollte nur sie. „Heirate mich.“ Die Worte standen im Raum, ganz streng und ernst, eine Lebensentscheidung. Britta dachte: Ich war doch schon einmal verheiratet. Ich bin Mitte fünfzig. Das ist nichts mehr für mich. Sie öffnete den Mund. Robert redete weiter.

„Wir sind gleich, Britta. Du merkst das doch auch, oder? Jetzt sind wir sogar familiär miteinander verbunden, deine PTA hat meinen Neffen geheiratet und heißt wie ich, wir haben die Patenschaft für das Kind übernommen… Wir wollen doch das gleiche vom Leben. Warum machen wir uns nicht noch ein paar schöne Jahre zusammen?“ Das können wir doch auch ohne zu heiraten, dachte Britta. Aber sie sagte es nicht. Robert, der spürte, dass sie ihm entglitt, ging nun auf die Knie. „Heirate mich“, wiederholte er. In diesem Moment, in dem Britta sich gerade eine Antwort überlegte, riss jemand die Tür auf und rief: „Chefin! Kommen Sie sofort!“

Billie stand im Türrahmen. Alles Lustige war aus ihrem Gesicht verschwunden, die blauen Augen funkelten alarmiert, streiften kurz den knieenden Robert und hefteten sich dann wieder auf Britta. „Vor dem Haus hat’s ‘nen Unfall gegeben, schnell!“ Robert von der Leyden sprang auf, schaltete in Sekundenbruchteilen um und fragte knapp: „Was ist passiert?“ „Jemand hat zwei alte Damen angefahren, direkt vor der Apotheke, und die eine… sie reagiert nicht mehr.“ „Krankenwagen?“ „Schon verständigt!“ Während Britta an der Tankstellenkasse bezahlte, ließ sie die Szene auf dem Marktplatz noch einmal Revue passieren.

Wie Robert auf dem Pflaster kniete, neben sich die schwarze Arzttasche, und die bewusstlose Frau versorgte… Britta kümmerte sich um die andere, die wie am Spieß schrie, weil sie sich den Arm gebrochen hatte. Der Fahrer des Lieferwagens stand dabei und rang die Hände: „Ich bin abgerutscht, verdammt, ich wollte noch bremsen, sie müssen mir glauben…!“ Robert injizierte etwas. Sein Gesicht war gespannt und hochkonzentriert. In der Ferne waren bereits die Sirenen der Rettungswagen zu hören. Britta streichelte die gesunde Schulter der Frau und sagte beruhigende Worte. „Gleich kommt jemand. Wir helfen Ihnen. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Die alte Frau hörte auf zu schreien. Langsam setzte der Schock ein. Sie schaute mit glasigen Augen auf ihre Nachbarin und fragte: „Was ist mit ihr?“ Robert riss ruckartig den Kopf hoch, seine Lippen waren ein einziger Strich. Britta erschrak. „Die Kollegen sind unterwegs“, sagte er knapp. 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 01/18 ab Seite 52.

Dieser Unfall wird Folgen haben … Welche, erfahren Sie in der Februar-Ausgabe von „DIE PTA IN DER APOTHEKE“!

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