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Idiopathischer Gesichtsschmerz

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Bohrende, brennende, stechende, tief sitzende Schmerzen, die einfach nicht aufhören wollen: Menschen mit einem anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerz erleben oft ein jahrelanges Leiden.

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Die Zähne sind gesund, das Kiefergelenk zeigt keine krankhaften Veränderungen, die Nasennebenhöhlen sind nicht entzündet, die Gesichtsnerven unverletzt und auch sonst scheint alles in Ordnung zu sein – und trotzdem ist er da: Jener einseitige, drückende oder auch pulsierende Gesichtsschmerz, der Betroffene unaufhörlich peinigt, ihnen ein Stück Lebensqualität raubt und nicht selten in Depressionen und Arbeitsunfähigkeit mündet. Bei vielen sitzt der örtlich schwer einzugrenzende Schmerz im Bereich des Kiefers, aber auch die Augenregion, Nase, Wangen und Schläfe sind häufig betroffen.

Die intensiven, in der Tiefe der Gesichtsmuskulatur oder der Zähne wahrgenommenen Schmerzen können sich bis zum Hals und Nacken ausdehnen. Anfangs tauchen sie meist nur unregelmäßig auf, später dann täglich. Körperliche Begleitsymptome wie Rückenschmerzen und Migräne sind möglich. Typischerweise lässt der Schmerz im Gesicht nachts nach, während er tagsüber ständig vorhanden ist – entweder mit wechselnder oder mit gleichbleibender Intensität. Betroffen ist in der Regel nur eine Gesichtshälfte, die im Krankheitsverlauf jedoch auch wechseln kann.

Typisches Frauenleiden Frauen leiden erheblich häufiger als Männer unter dem anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerz, wie das bis heute immer noch rätselhafte Krankheitsbild genannt wird. Bekannt ist der einseitige Dauerschmerz unklaren Ursprungs auch unter dem Begriff „atypischer Gesichtsschmerz“. Sehr viele Patienten sind zwischen 30 und 50 Jahren alt. Häufig haben sie eine lange Leidensgeschichte, eine regelrechte Arztodyssee, zahlreiche erfolglose Behandlungen und nicht selten auch überflüssige chirurgische Eingriffe wie Zahnextraktionen hinter sich, ehe ihnen endlich geholfen werden kann. Wie viele Menschen tatsächlich unter einem idiopathischen Gesichtsschmerz leiden, ist unbekannt.

Experten schätzen, dass die Dunkelziffer hoch ist – denn nicht jeder Patient landet letztlich bei einem Schmerzspezialisten und bekommt die richtige Diagnose. Im Gegensatz zum typischen Gesichtsschmerz (Trigeminusneuralgie), bei dem der Schmerz blitzartig auftritt, bleiben einschießende Schmerzattacken beim idiopathischen Gesichtsschmerz in aller Regel aus. Weitere Unterschiede: Der idiopathische Schmerz ist bei den meisten Patienten weder an bestimmte Auslöser (Trigger) geknüpft noch geht er mit Gefühlsstörungen einher. Lediglich bei wenigen Betroffenen treten einschießende Sekundenschmerzen auf, dann ist die Abgrenzung von einer Trigeminusneuralgie besonders schwer. Typisch für anhaltende idiopathische Gesichtsschmerzen ist, dass sich die Beschwerden durch Kälte häufig verschlimmern.

Rätselhafte Ursachen Weil die Ursachen des tückischen Leidens – wie bei allen idiopathischen Beschwerdebildern – nun einmal nicht erkennbar sind, ist es gar nicht so leicht, die bisher wenig erforschte Krankheit zu diagnostizieren und zu behandeln. Als mögliche Auslöser der dauerhaften, starken Schmerzen kommen vorangegangene Verletzungen oder Operationen im Gesicht oder am Kiefer infrage.

Verletzungen der Nervenenden könnten dann möglicherweise die Schmerzursache sein. Nach Zahn- oder Zahnwurzeloperationen kann sich eine lokalisierte Form des Gesichtsschmerzes entwickeln, bei der ein dem Phantomschmerz ähnlicher krankhafter Mechanismus vermutet wird. Auch seelische Ursachen werden mitunter als Schmerzursache diskutiert. Allerdings sind psychische Erkrankungen wie depressive Verstimmungen vermutlich eher die Folge als die Ursache der quälenden Schmerzen, die das Leben überschatten.

Andere Schmerzursache: Trigeminusneuralgie
Hinter heftigsten, unvermittelt einschießenden Gesichtsschmerzen, die oft nur wenige Sekunden andauern, steckt oft eine Trigeminusneuralgie. Die Schmerzen gehen hierbei vom fünften Hirnnerv, dem auch als „Drilling“ bekannten Trigeminusnerv, aus. Die Hauptäste des Nervs leiten sensible Informationen aus dem ganzen Gesichtsbereich zum Gehirn. Bei einer Trigeminusneuralgie sind bestimmte Nervenäste – meist der zweite oder dritte – geschädigt. Triggerreize wie z. B. Berührungen, Kauen, Sprechen oder Stress können eine Schmerzattacke auslösen. Liegt den Gesichtsschmerzen keine andere Erkrankung zugrunde, kann die Trigeminusneuralgie mit Medikamenten wie Antikonvulsiva behandelt werden. Zeigen sie nicht die gewünschte Wirkung, kommt eine Operation oder eine Strahlentherapie infrage, um den Nerv auszuschalten.

Aufwändige Ausschlussdiagnose Um dem anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerz auf die Spur zu kommen, bedarf es einer aufwändigen Ausschlussdiagnose: Durch Anamnese, Blutuntersuchungen und bildgebende Verfahren wie Röntgenaufnahmen, Computer- und Kernspintomografie gilt es, sämtliche andere mögliche Schmerzursachen auszuschließen. Das ist nicht leicht, denn lang ist die Liste der Erkrankungen, die mit sehr ähnlichen Symptomen einhergehen: Typische Gesichtsschmerzen, Entzündungen der Nasennebenhöhlen, Kieferinfektionen, Tumore, Gefäßmissbildungen, bestimmte Kopfschmerzarten und Herpes Zoster (Gürtelrose) gehören unter anderem dazu.

Meist müssen Patienten zahlreiche Fachärzte wie den Augen- und den HNO-Arzt, den Zahnarzt und den Neurologen konsultieren, bis die Diagnose gesichert ist. Oft vergehen bis dahin viele, für den Schmerzgeplagten frustrierende Monate oder gar Jahre – mit unzähligen Stunden in Wartezimmern, zahlreichen erfolglosen Therapien und häufig auch operativen Eingriffen an Kiefer, Nebenhöhlen und Zähnen, die die Beschwerden schlimmstenfalls noch weiter verstärken.

Komplexe Behandlung Steht die Diagnose „anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz“ endlich fest, kann das Leiden bei vielen Betroffenen mit einer maßgeschneiderten medikamentösen Schmerztherapie – am besten in Kombination mit einer Verhaltenstherapie – gelindert werden. Besonders häufig verordnen Mediziner ihren Patienten trizyklische Antidepressiva, da diese Arzneimittel nicht nur stimmungsaufhellend sind, sondern auch in die Schmerzverarbeitung im Gehirn eingreifen und so analgetisch wirken. Mitunter setzen Ärzte versuchsweise auch Antikonvulsiva wie Carbamazepin oder Oxcarbazepin ein, um die atypischen Gesichtsschmerzen zu lindern.

Klassische Schmerzmittel helfen hingegen nicht, selbst stark wirksame Opioide zeigen in der Regel keinen nennenswerten Behandlungserfolg. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen sind hingegen unbedingt empfehlenswert, um Ängste abzubauen und die Schmerzbewältigung zu unterstützten. Auch Methoden zur Stressbewältigung und Schmerzverarbeitung können sich positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken. Mintunter können ergänzende Behandlungsverfahren wie Akupunktur, Biofeedback, transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) und spezielle Hypnoseverfahren zum Therapieerfolg beitragen.

Ganz wichtig jedoch: Operationen im Gesicht und chirurgische Eingriffe an den Zähnen sollten vermieden werden, denn sie können das Krankheitsbild weiter verschlimmern und einer Chronifizierung Vorschub leisten. Durch ein individuell geeignetes Therapiekonzept gelingt es sehr oft, die Schmerzen zu reduzieren und die Lebensqualität Betroffener zu erhöhen. Viele Patienten sind phasenweise, mitunter sogar monatelang völlig beschwerdefrei. Eine vollständige Heilung – sprich eine dauerhafte Ausschaltung der Schmerzen – lässt sich häufig jedoch nicht erreichen.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 02/18 auf Seite 114.

Andrea Neuen, Freie Journalistin

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